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Chancengleichheit Deutschlands Schulen werden langsam besser

Ein neuer Ländervergleich der OECD zeigt: Die Chancen für Kinder aus sozial schwachem Umfeld haben zugenommen, auch in Deutschland. Aber noch längst nicht genug.

Der Vater arbeitslos, die Mutter prekär beschäftigt, das Geld reicht knapp zum Leben, keiner der Verwandten hat Abitur. Bücher? Kaum vorhanden. Hat ein Kind aus so einer Familie die gleichen Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein und zu studieren wie die Tochter oder der Sohn wohlsituierter Akademikereltern?

Nein, und zwar in keiner Industrienation der Welt. Das zeigt erneut der Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), der am Dienstag vorgestellt wurde. Er belegt aber auch: Was die Chancengleichheit betrifft, gibt es erhebliche Unterschiede - und in vielen Ländern hat sich die Situation zum Positiven verändert.

Die gute Nachricht: Deutschland hat beim Thema Chancengleichheit "moderate Verbesserungen" erzielt, wie es in der OECD-Studie heißt. Deutsche Schulen rangieren im Ländervergleich nicht mehr so weit hinten, sondern haben etwa neben Chile, Dänemark, Mexiko, Montenegro und den USA in den Jahren 2006 bis 2015 Fortschritte gemacht.

Die schlechte Nachricht: Die Bundesrepublik gehört immer noch zu den OECD-Staaten, in denen der Schulerfolg eines Kindes deutlich enger vom sozioökonomischen Hintergrund abhängt als in vielen anderen Ländern, sagt Andreas Schleicher, OECD-Bildungsdirektor. Er nennt verschiedene Indikatoren.

Leistungsunterschiede im Umfang von mehr als drei Schuljahren: 15-jährige Schüler aus sozial benachteiligten Familien erreichten beim Pisa-Test 2015 in den Naturwissenschaften im Schnitt 466 Punkte. Schüler aus sozial privilegierten Familien kamen auf 569 Punkte - eine Differenz von 103 Punkten. "Das entspricht rund drei Schuljahren", sagt Schleicher.

Schüler in Estland

Schüler in Estland

Foto: SPIEGEL ONLINE

Zum Vergleich: In der OECD liegt der Unterschied im Schnitt bei 88 Punkten. In Estland sind es 69 Punkte. In einigen Ländern erzielen Schüler sogar unabhängig vom sozialen Hintergrund ganz ähnliche Leistungen, etwa in Algerien, Hong Kong und Island.

Bei einem Leistungsvergleich in mehreren Fächern liegen Deutschlands stärkste Schüler zum Beispiel gleichauf mit Topschülern in Vietnam. Die Schere geht dort aber längst nicht so weit auf: Die schwächsten Schüler schneiden hierzulande deutlich schlechter ab als in dem asiatischen Land.

Immerhin: "Seit der ersten Pisa-Studie hat sich die Chancengerechtigkeit verbessert. Deutschland gehört zwar zu den Ländern, in denen es noch eine große Schere gibt, aber sie bewegt sich aufeinander zu", sagt Schleicher.

Doppelte Benachteiligung durch Sortierung nach Milieu: Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund besuchen der Studie zufolge oft Schulen, in denen die übrige Schülerschaft aus einem ähnlichen Umfeld stammt. Das Problem: Bleiben diese Kinder weitgehend unter sich, fallen ihre schulischen Leistungen in vielen Ländern schlechter aus, als wenn sie in eine Schule mit Kindern aus besser gestellten Familien gehen.

In einer solchen Konstellation erreichen die Kinder aus sozial benachteiligten Familien in Deutschland bei Tests in Naturwissenschaften 122 Punkte mehr als Schüler mit dem gleichen Hintergrund an einer Schule mit niedrigem sozioökonomischem Standard. Noch größer ist der Effekt in Belgien, Bulgarien, Frankreich, Ungarn und Argentinien - 130 Punkte. Im OECD-Schnitt liegt der Unterschied bei 78 Punkten. "Der soziale Kontext ist teilweise wichtiger für den Bildungserfolg als der individuelle", sagt Schleicher.

Schulen, die überwiegend von Kindern mit niedrigem sozioökonomischen Umfeld besucht werden, sind laut Studie oft schlechter ausgestattet als andere - finanziell, materiell, personell. Auch Schulklima, allgemeine Motivation und Disziplin seien oft weniger gut. All dies verstärke die "doppelte Benachteiligung". In einigen OECD-Ländern gibt es diesen Effekt allerdings kaum - etwa in Finnland, Polen, Island, Norwegen und Albanien.

Wenige Schüler trotzen schlechten Startbedingungen: Wie groß die Chancengleichheit ist, macht sich laut Studie auch daran fest, wie viele Schüler aus sozial benachteiligten Familien zu den Spitzenschülern eines Jahrgangs in ihrem Land gehören. Der Fachbegriff: "national resilient". Das heißt: Die Schüler erzielen allen Widrigkeiten zum Trotz sehr gute Leistungen.

Deutschland gehört zu den Ländern, in denen dies für vergleichsweise wenige Schüler aus sozial schwachen Familien gilt, wie Schleicher sagt. Bei Tests in Naturwissenschaften bleibt die Quote mit zehn Prozent leicht unter dem OECD-Schnitt (elf Prozent). Vietnam dagegen kommt auf 15, Finnland und Estland erreichen 14 Prozent.

Besser schneiden Schüler in Deutschland ab, wenn neben den Naturwissenschaften auch noch die Fähigkeiten in Mathematik und Lesen gewertet werden. Dann haben 32 Prozent der Schüler gute Kompetenzen, im OECD-Schnitt sind es nur 25 Prozent.

Uni-Abschluss scheint erblich: Erwachsene mit Akademikereltern besuchten in Deutschland mit einer acht Mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Hochschule als Erwachsene von Eltern mit einem niedrigeren Bildungslevel. Im OECD-Schnitt liegt die Wahrscheinlichkeit elf Mal höher - in Neuseeland nur drei Mal höher, in Kanada, Estland, Finnland und Schweden vier Mal höher.

In den Neunzigern und Anfang der 2000er Jahre sei die Bildungsmobilität in Deutschland noch höher gewesen, sagt Schleicher. Bei jungen Menschen habe dies abgenommen. Dass Deutschland im Ländervergleich eher am unteren Ende stehe, liege aber auch daran, dass hier bereits recht viele Menschen einen höheren Bildungsabschluss haben. Schleicher: "Aber da bleibt trotzdem noch viel zu tun."

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Deutschland glänzt beim Wohlfühlfaktor: Erstmals wurde in dem OECD-Bildungsbericht auch untersucht, ob sich Kinder und Jugendliche an ihrer Schule integriert fanden. Gefragt wurde außerdem, ob sie zufrieden mit ihrem Leben waren und sich zutrauten, schwierige Herausforderungen zu meistern.

Das Ergebnis: Bei sozial benachteiligten Schülern ist die Zustimmung deutlich geringer als bei Kindern aus privilegierten Elternhäusern, selbst wenn sie in der Schule gleiche Leistungen zeigen. Der OECD-Wert liegt bei 26 Prozent. "Deutschland schneidet in diesem Bereich mit 36 Prozent besser ab, als viele andere Länder", sagt Schleicher. Noch wohler fühlten sich Kinder aus sozial benachteiligten Familien aber etwa in den Niederlanden (50 Prozent).

Fazit der Forscher: In den vergangenen 50 Jahren habe sich die Bildungsbeteiligung weltweit im Schnitt deutlich gesteigert. Mehr Menschen besuchen im Vergleich zur Generation ihrer Eltern und Großeltern weiterführende Schulen, machen Abitur, schließen ein Studium ab - aber: "Man hatte gehofft, dass so eine Bildungsexpansion automatisch zu mehr Chancengleichheit führt, und das ist nicht unbedingt der Fall", heißt es in der Studie.

Die großen Unterschiede und Entwicklungen bewiesen allerdings, dass politische Weichenstellungen bereits innerhalb weniger Jahre deutliche Effekte haben könnten, sagt Andreas Schleicher. Angesichts der Tatsache, dass die Einkommensunterschiede in den OECD-Staaten so groß seien wie zuletzt in den Achtzigerjahren, müssten mehr Anstrengungen unternommen werden.